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Kraft aus Empfindsamkeit

Schätzungsweise 15 bis 20 % der Erwachsenen und Kinder sind hochsensibel. Wer hochsensibel ist, erlebt viele überreizende Herausforderungen im Alltag – visuell, akustisch und emotional. Das kann mitunter sehr anstrengend sein. Das Bewusstsein für die eigene Hochsensibilität und individuelle Strategien helfen dabei, das Potenzial daraus zu nutzen, Grenzen zu erkennen und Energieressourcen zu sparen.

Seit gut 30 Jahren ist Hochsensibilität das Forschungsfeld vieler Psychologen. Dabei handelt es sich aber nicht um eine psychische Erkrankung, sondern um einen angeborenen Wesenszug. Die Fachpersonen nehmen an, dass jeder fünfte Mensch hochsensibel ist. Sowohl Frauen wie Männer als auch Kinder sind gleichermassen davon betroffen. Es gibt Hinweise, dass hochsensible Menschen ein leicht erhöhtes Risiko aufweisen, psychische Beschwerden und Krankheiten wie Schlafstörungen, Depressionen, Burnout oder Angststörungen zu entwickeln. Das Persönlichkeitsmerkmal sollte jedoch nicht eine Pathologisierung oder Einschränkung darstellen, sondern als eine Art «Superkraft» wahrgenommen werden.

Stärkere Wahrnehmung

Hochsensible nehmen Reize stärker wahr und verarbeiten diese gründlicher. Ihr Wahrnehmungsfilter auf innere und äussere Reize ist gegenüber nicht-hochsensiblen Menschen schärfer eingestellt. Das Abfangen dieser Stimulationen erzeugt Unruhe und benötigt sehr viel Energie. Die Verarbeitung wird von den Betroffenen als anstrengend und ermüdend wahrgenommen. Zudem beeinflussen der eigene Stresslevel und die vorhandenen Energieressourcen die Sensibilität jedes Individuums in unterschiedlicher Weise. Viele Frauen berichten ausserdem, dass ihre Sensibilität sich innerhalb des menstruellen Zyklus verändert. Eine erhöhte Reizlast wird vor der Menstruation schlechter vertragen, und körperliche und psychische Reaktionen auf die Reize sind stärker ausgeprägt. 

Hochsensibel

Auf Selbstwahrnehmung achten

Wenn eine Hochsensibilität vermutet wird, sollte zuerst analysiert werden, welche Situationen im Alltag stark übererregen und entsprechend ermüden. Sich bewusst zu sein, welche Situationen stark fordern, fördert die Selbstwahrnehmung, schafft Klarheit für sich selbst und erweitert den Handlungsspielraum. Nach einer Analyse werden individuelle Strategien für die Situationen entworfen, umgesetzt und immer wieder angepasst. Es kann helfen, sich psychisch auf mögliche Reize vorzubereiten oder mögliche Auswege aus der überreizenden Situation zu kennen, Ruhepausen am Tag verbindlich einzuhalten oder an stark fordernden Tagen mehr zu schlafen. Ein paar konkrete Beispiele dazu:

  • Einkauf in einem Center in ein kleineres Geschäft verschieben oder ein anderes Familienmitglied mit dem Einkauf beauftragen
  • Die Autofahrt in der Nacht durch eine Zugreise ersetzen
  • Die Mittagspause für ein Nickerchen nutzen anstelle eines Essens mit den Arbeitskolleginnen
  • Sich nach einem aufreibenden Gespräch durch Meditation abgrenzen
  • Ein Picknick in der Natur anstelle eines Restaurantbesuchs mit Freunden
  • Den Barbesuch durch einen Spaziergang ersetzen

Manchmal hilft auch nur schon die Gewissheit, die Ausstiegsoptionen aus einer reizgefüllten Situation zu kennen. Hochsensible Menschen sollten auch auf ihren Medienkonsum achten. Die Informationsflut sowie die visuelle und akustische Überreizung durch schnell wechselnde Bild- oder Videosequenzen in den sozialen Medien oder auch die Tagesnachrichten überfordern hochsensible Menschen oft. Es lohnt sich, genau abzuwägen, welche und wie viele Nachrichten richtig und wichtig sind. Fixe Offline-Zeiten können helfen, die Reizlast zu minimieren.

Hilfe aus der Natur

In der Naturheilkunde können viele Pflanzen helfen, sich vor Reizen zu schützen. Sie dienen als gute Ergänzung und Unterstützung zu den oben aufgeführten Massnahmen. Spagyrische Essenzen wie echte Engelwurz, gewöhnliche Brechnuss, Trauben-Silberkerze oder Katzengamander wirken präventiv umhüllend und schützend bei rascher physischer oder emotionaler Übererregung. Pflanzen wie Blauer Eisenhut, Scheinmyrte oder Gewöhnliche Haselwurz helfen in Akutsituationen, das überreizte Nervenkostüm zu beruhigen. Körperöle mit Moorextrakt und Lavendelöl können äusserlich helfen, die Haut als Schutzhülle zu stärken. In Ihrer Drogerie oder Apotheke berät Sie das Fachpersonal kompetent und bereitet für Sie eine auf ihre individuellen Bedürfnisse angepasste «Mischung aus der Natur» vor.

Hochsensibel

Leben in Partnerschaft

Für nicht hochsensible Menschen, die mit hochsensiblen Menschen befreundet oder verwandt sind oder vielleicht sogar in einer Partnerschaft zusammenleben, ist Selbstverantwortung sehr wichtig. Sie fragen sich z. B.:

  • Wo sind meine Grenzen?
  • Wie viel Rücksicht kann ich nehmen?
  • Welche Bedürfnisse kann ich mit meinem hochsensiblen Freund/Verwandten/Partner nicht erfüllen?
  • Wie kann ich sie mit anderen Menschen erfüllen?
  • Was kann ich im Zusammensein mit meinem hochsensiblen Freund/Verwandten/Partner vielleicht neu entdecken?

Für beide, hochsensible und nicht hochsensible Menschen, bedeutet Selbstverantwortung auch, sich auszutauschen, die eigenen Grenzen zu klären. Im Endeffekt heisst das: die Grenzen des anderen verstehen zu lernen. Und trotz der eigenen Begrenztheit und der Begrenztheit des anderen seinen Bedürfnissen und Wünschen entgegenzukommen. Im Austausch kommt man dann vielleicht auch auf ungewohnte Lösungen. Fremde wundern sich vielleicht, wenn ein Paar immer getrennt bei Partys erscheint, weil der hochsensible Partner später kommt und früher geht. Der hochsensible Mensch lernt zu akzeptieren, dass sein/e Partner/in laute und actionreiche Aktivitäten mit anderen Menschen teilt. Beide entdecken womöglich neue gemeinsame Interessen, z. B. im Wald zu spazieren, im Garten zusammen zu arbeiten oder sich gegenseitig zu bekochen.

Das Potenzial nutzen

Hochsensibilität soll keine Entschuldigung für emotionale Ausbrüche sein. Grundsätzlich kann der ganze Alltag auch im Hochsensiblen-Spektrum gelebt werden. Das eigene Bewusstsein dafür zu schärfen, hilft wohlwollender mit sich selbst zu sein, seine Grenzen besser zu erkennen und auch entsprechend klar zu kommunizieren. Diese bewusste Wahrnehmung beugt Konflikten vor und kann als Teil der Selbstfürsorge betrachtet werden. Denn die überdurchschnittliche Wahrnehmungsfähigkeit hochsensibler Menschen bringt ein grosses inneres Potenzial mit sich. Hochsensible haben ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen, verfügen über eine starke Intuition, erkennen viele Zusammenhänge und zwischenmenschliche Stimmungen, sind häufig reflektiert, kreativ und können gut und gerne geniessen. Entgegen der Annahme, dass hochsensible Menschen automatisch sehr verletzlich sind, können sie ausgesprochen resilient sein. Wenn sich Hochsensible angemessen gegen Reize schützen, können sie diese «Superkraft» ausschöpfen.

Hochsensibel

Bin ich hochsensibel?

Um Hochsensibilität festzustellen, bedarf es einer genauen psychologischen Abklärung. Durch eigene Reflektion können jedoch Hinweise auf eine mögliche Hochsensibilität erkannt werden. Das Temperamentmerkmal kann sich gemäss der amerikanischen Psychologin und Buchautorin Elaine N. Aron in vier Dimensionen zeigen. Jede einzelne davon kann unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Die Eigenschaft ist als Spektrum wahrzunehmen, in welchem es deutliche und weniger starke Ausprägungen sowie auch Vermischungen gibt.

 

1. Dimension Verarbeitung von Informationen

Hochsensible Menschen haben häufig das starke Bedürfnis, inhaltliche Informationen kognitiv klar einzuordnen. Gespräche, Begegnungen oder Konflikte hallen lange nach oder beschäftigen bis tief in die Nacht. Sie können schlecht mit widersprüchlichen Aussagen umgehen, haben das starke Verlangen nach «Ordnung im Kopf» und bündeln gerne Informationen.

 

2. Dimension Physiologische Übererregbarkeit

Körperlich kann eine hochsensible Person sehr rasch und heftig auf Stress reagieren. Während eine Situation von Aussenstehenden als nicht bedrohlich wahrgenommen wird, kann diese für einen hochsensiblen Menschen bereits zum Alarmmodus führen. Dies zeigt sich durch Schwitzen, Herzrasen oder einem beklemmenden Gefühl in der Herzregion.

 

3. Dimension Intensive Emotionen

Hochsensible Menschen erleben positive sowie negative Emotionen sehr heftig und finden nur mühsam aus negativen Emotionen hinaus. Oft berichten Betroffene von grossem «Weltschmerz» bei einzelnen negativen Informationen zum Weltgeschehen. Nette Worte hingegen fühlen sich wie eine körperliche Umarmung an.

 

4. Dimension Sensorische Wahrnehmung 

Sensorische Reize werden für Hochsensible schnell zur Überforderung, denn ihre Sinneswahrnehmung kann sehr ausgeprägt sein. So kann das Autofahren bei Nacht, ein kratziger Wollpullover, ein nicht zuordnungsbarer Geruch oder ein Besuch in einem gut besetzten Lokal zu einer grossen Herausforderung werden.

Text: Barbara Freiermuth, Bilder: Beat Brechbühl

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